Neue Rohdaten belegen: Söder nutzte verzerrte Ungeimpften-Inzidenz
Foto: Michael Lucan, 2021-10-18 Markus Soeder 3048, CC BY-SA 3.0 DE
München – Bayern, Hamburg und Sachsen verzerren die Inzidenzwerte von Geimpften und Ungeimpften. Das ergaben im Dezember Recherchen der Tageszeitung „WELT“. Demnach haben diese Bundesländer positiv auf das Coronavirus getestete Personen mit unbekannten Impfstatus automatisch in die Inzidenz für Ungeimpfte gezählt, und nicht als eigene Gruppe angegeben. Bayern weigerte sich zunächst, die Rohdaten zu veröffentlichen. Erst, nachdem die „WELT“ mit juristischen Schritten drohte, veröffentlichte das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) am Freitag die Rohdaten für die Ausweisung der Corona-Inzidenz in Geimpfte und Ungeimpfte.
Die neu veröffentlichten Rohdaten belegen: Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte im November öffentlich eine völlig falsche, da überhöhte, Inzidenz für Ungeimpfte angegeben. Wie Söder Mitte November mitteilte, hätte die Inzidenz von Geimpften in Bayern 110 pro 100.000 Personen betragen, die der Ungeimpften dagegen 1.469.
Rohdaten widersprechen Söders Ungeimpften-Inzidenz
Die Rohdaten zeigen jedoch, dass die Inzidenz der Ungeimpften zu diesem Zeitpunkt lediglich bei 333,8 gelegen habe. Die Statistik rechnete allerdings rund 48.000 Fälle mit unbekanntem Impfstatus den Ungeimpften zu. Daraus entstand der falsche Ungeimpften-Inzidenzwert von 1.469. Nachdem das bayrische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) weitere Daten einholte, lautet das Endergebnis für die betreffende Novemberwoche eine Inzidenz von 234,6 bei den Geimpften, 667,3 bei den Ungeimpften. Anstatt der von Söder kommunizierten 14-fach höheren Ungeimpften-Inzidenz nur noch eine dreifach höhere. Söder hat demnach Mitte November für seine Politik mit völlig falschen Zahlen argumentiert.
Der CSU-Gesundheitsminister Klaus Holetschek verteidigte das umstrittene Vorgehen, positiv Getestete mit unbekannten Impfstatus den Ungeimpften zuzurechnen, gegenüber der „WELT AM SONNTAG“: „Es war sinnvoll, die Meldefälle mit unbekanntem Impfstatus gemeinsam mit der Gruppe der Ungeimpften auszuweisen.“ Die Zählen lägen damit „näher an der Realität“.
Verzerrte Inzidenzzahlen sind ein schwerwiegender Staatsfehler, wenn die Politik damit die „2G-Regel“ und somit drastische Einschränkungen der Bürgerrechte rechtfertigt. Das bayrische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) erklärt dazu allerdings auf seiner Webseite: „Die Inzidenz der Ungeimpften und Geimpften war weder fachlich noch rechtlich ein Leitindikator zur Beschreibung und Bewertung der Pandemielage in Bayern, sondern ein Teilaspekt.“
Als Konsequenz auf die Enthüllungen der „WELT“ versetzte Söder den Amtspräsidenten des LGM, Walter Jonas, Ende Dezember. Ein „Bauernopfer“, kommentierte Bayerns FDP-Fraktionschef Martin Hagen.
FDP: Söders Vorgehen beschädigt Glaubwürdigkeit des Staates
Hagen bemerkte schon Anfang Dezember zu den Enthüllungen: Sollte die Staatsregierung die Bürger vorsätzlich täuschen, „beschädigt das nicht nur die Glaubwürdigkeit der Staatsregierung, sondern ganz generell das Vertrauen in staatliche Institutionen“. FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki sagte der „WELT“ über Söder: „Entweder er wollte ein schiefes Bild über die von Umgeimpften ausgehende Infektionsgefahr zeichnen und eine Gruppe von Menschen damit amtlich stigmatisieren, oder er hat seinen Laden nicht im Griff. Sowohl das eine wie auch das andere sind ausreichende Gründe für einen Rücktritt.“ Kubicki forderte im Dezember eine Verfassungsklage gegen Söder.
Auch Bayerns SPD-Fraktionschef Florian von Brunn äußerte sich vergangenen Monat gegenüber „WELT“: „Leider findet sich in der Antwort auf meine Anfrage auch kein Wort, warum Markus Söder diese Daten trotz Widerspruch von Experten munter weiterverwendet hat. Das ist peinlich, denn sonst sitzt er in jeder Talkshow und belehrt andere.“
Zurückgehaltenes „Herrschaftswissen“ spielt rechtspopulistischen Impfgegnern in die Hände
Der Vorsitzende der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, Karl-Heinz Paqué, kritisierte am Mittwoch in einem Gastbeitrag bei der „WELT“ wegen den für Laien kaum verständlichen Statistiken des Robert Koch-Instituts (RKI) ein „Herrschaftswissen“ der Regierung. Der Staat halte den Bürgern zentrale Informationen vor. Paqué fragt, warum das RKI die Daten nicht verständlich aufbereitet: „Wer die Antwort auf diese Frage sucht, stößt auf ein Grundproblem des deutschen Staates. Denn es drängt sich auch in anderen Zusammenhängen der Eindruck auf, dass der deutsche Staat auf allen seinen Ebenen – Bund, Länder und Gemeinden, Ministerien, untergeordnete Behörden wie das RKI – gar kein Interesse zeigt, dass die Öffentlichkeit die Fakten genau kennt und verfolgt.“
Die Welt werde eingeteilt in Staat einerseits und Menschen andererseits, und der Staat könne das „komplexe und gefährliche“ Herrschaftswissen den Menschen nicht zumuten. Dieses Vorgehen zerstört laut Paqué das Vertrauen in den Staat. „Man glaubt ihm einfach nicht mehr, weil man weiß: Er hält Informationen zurück, um seine Rolle als Mahner und Warner zu bewahren. Oder zumindest diskontiert man alles, was er verlauten lässt, als übertriebene Panikmache.“ Paqué sieht darin das Problem, dass sich damit rechtspopulistische Impfgegner in ihrem „Verschwörungswahn“ und Misstrauen bestätigt sehen. Für den Vorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung wird es „höchste Zeit, dass diese fatale Entwicklung gestoppt wird.“ Dazu solle das RKI die Daten ab 2022 für jeden verständlich aufbereiten, „und zwar sachlich und nüchtern, ohne Angstmache und Panik“.
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